Ein Ratgeber für Eltern
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Haben Sie Sorgen oder Unsicherheiten bezüglich Zwei-/Mehrsprachigkeit?
Sie fragen sich vielleicht, ob Ihr Kind verwirrt wird, wenn zu Hause oder in der Umgebung (z. B. im Kindergarten/in der Kita oder in der Schule) mehr als eine Sprache gesprochen wird. Vielleicht sind Sie besorgt, wenn Ihr Kind regelmäßig zwischen Sprachen wechselt. Sie denken vielleicht, dass Ihr Kind die Sprachen nicht auseinanderhalten kann. Sie machen sich vielleicht Sorgen, ob mehr als eine Sprache bei der Einschulung zum Problem werden könnte. Vielleicht denken Sie sogar, dass Mehrsprachigkeit von klein auf bestimmte Nachteile für die Entwicklung Ihres Kindes mit sich bringt.
Wir wollen erklären, warum der Erwerb von mehr als einer Sprache und der regelmäßige Wechsel zwischen den Sprachen in der Regel kein Problem darstellt, wenn Kinder und Erwachsene mit jemandem kommunizieren, der die gleichen Sprachen spricht wie sie. Darüber hinaus wollen wir einige Mythen über Zwei-/Mehrsprachigkeit ansprechen und den aktuellen Stand der Forschung vorstellen, der diese Mythen bestätigt oder widerlegt. Außerdem werden wir einige Aktivitäten zum Umgang mit dem typischen Phänomen des Sprachwechsels (dem sogenannten Code-Switching) anbieten.
Was geschieht im Gehirn, wenn...?
Die Sprachentwicklung ist ein komplexer Prozess. Wenn wir eine Sprache erwerben, reserviert unser Gehirn Platz für alle Teile dieses sich entwickelnden Sprachsystems. In diesem Raum befindet sich ein ständig wachsendes Netz von Zellen, die aktiviert werden, wenn eine Kommunikation stattfinden soll. Dieses Netzwerk von Zellen transportiert und verbindet Informationseinheiten, die mit dem Sprachverständnis und der Sprachproduktion verbunden sind. Wenn ein Kind mehr als eine Sprache erwirbt/erlernt, baut das Gehirn zusätzliche Verbindungen zwischen den verschiedenen Sprachen auf. Sie werden alle aktiviert, wenn wir kommunizieren wollen. Unser Gehirn entscheidet dann schnell, welche Sprache in welchem Kontext und mit wem mehr Sinn macht. Normalerweise müssen wir nicht einmal darüber nachdenken.
Wenn wir wissen, dass die Person, mit der wir kommunizieren wollen, dieselben Sprachen spricht wie wir, muss sich unser Gehirn nicht nur auf eine Sprache konzentrieren. In diesem Fall bietet das Gehirn sofortigen Zugang zu allen Kenntnissen und Fähigkeiten in allen Sprachen, die wir in einem alltäglichen Gespräch verwenden können (auch sprachliches Repertoire genannt). Folglich können wir einen größeren Teil des Wortschatzes oder der Grammatik verwenden. Es hilft, die Sprache zu wählen, die am besten geeignet ist, um etwas genau und mit mehr bedeutungsvollen Details zu beschreiben. Darüber hinaus kann der Zugang zu einigen Wörtern und Ausdrücken in einer Sprache schneller erfolgen als in einer anderen, und wir können die Sprache verwenden, die uns zuerst einfällt, ohne Angst haben zu müssen, nicht verstanden zu werden.
Der Wechsel von einer Sprache zur anderen ist Teil unserer mehrsprachigen Realität und wird Code-Switching genannt. Code-switching kann innerhalb eines Satzes, zwischen Sätzen oder bei einem Themenwechsel stattfinden. Code-switching ist ein Zeichen für eine*n hochkompetente*n Sprecher*in, denn die Regeln der verwendeten Sprachen werden in der Regel eingehalten, und die Sprache wird kreativ und effektiv eingesetzt, um sich verständlich zu machen. Kinder lernen sehr schnell, mit wem sie die Sprachen, in denen sie kompetent sind, verwenden können.
Wenn Kinder schon früh Zugang zu einem reichhaltigen Wortschatz und genügend Zeit zum Üben in authentischen und bedeutungsvollen Gesprächen erhalten, können sich die verschiedenen Sprachen parallel in gleich umfassender Qualität und Quantität entwickeln. Wenn dies der Fall ist, kann das Code-Switching schnell erfolgen. Wenn man Kindern einen ausgewogenen Zugang zu verschiedenen Sprachen ermöglicht, zeigt man ihnen, dass alle Sprachen wertvoll und wichtig sind und dass sie ihr Sprachrepertoire ohne zu zögern nutzen können. Langfristig kann dies den Kindern helfen, kompetente, stolze Sprecher*innen in jeder Sprache zu werden, mit der sie vertraut gemacht werden.
Verbreitete Mythen über Zwei-/Mehrsprachigkeit
Typische Aussagen, die man über Zwei-/Mehrsprachigkeit hört. Ist da etwas Wahres dran?
"Zwei- und mehrsprachig zu sein, ist kein 'normaler Zustand'."
Einsprachig zu sein ist weltweit betrachtet tatsächlich relativ selten. Die Mehrheit der Weltbevölkerung ist zumindest bis zu einem gewissen Grad zweisprachig, wenn nicht sogar mehrsprachig. Mit anderen Worten ist dies der "normale" Zustand.
"Kinder, die mit mehr als einer Sprache aufwachsen, werden verwirrt sein." oder "Zwei- oder mehrsprachig aufzuwachsen, hindert Kinder daran, kompetente Sprecher*innen in allen Sprachen zu werden, die sie erworben haben."
Es gibt keinen Beweis dafür, dass Kinder durch mehr als eine Sprache verwirrt werden.
Kinder werden zu kompetenten Sprecher*innen in allen Sprachen, mit denen sie aufwachsen, solange es genügend sinnvolle Unterhaltungen gibt - reich an Wörtern und Ausdrücken - und solange das Kind keine anderen geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen hat. Beeinträchtigungen wirken sich in der Regel auf alle Sprachen aus, mit denen das Kind vertraut gemacht wird.
"Code-Switching verwirrt Kinder und zeigt, dass sie die Sprachen, mit denen sie aufwachsen, nicht beherrschen."
Code-Switching ist eine Kompetenz auf verschiedenen Ebenen: Einerseits zeigt es die Fähigkeit der sprechenden Person, Grammatik und Ausdrücke verschiedener Sprachen korrekt zu verwenden. Andererseits kann das Code-Switching dazu beitragen, Gespräche zu erleichtern oder bestimmte Aspekte der Sprache zu betonen, die der sprechenden Person in einer bestimmten Situation am angemessensten erscheinen.
"Zwei- oder mehrsprachig aufzuwachsen hat negative Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern."
Im Gegenteil, es hat sogar einige positive Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung von Kindern.
Studien deuten darauf hin, dass zwei- oder mehrsprachig aufwachsende Kinder einige wichtige Fähigkeiten früher entwickeln können als einsprachig aufwachsende Kinder, weil sie ständig und täglich Sprachen vergleichen, zum Beispiel das Wissen über Sprachen und ihre Regeln. Auch das Bewusstsein für verschiedene Laute und Silben und wie sie zu Wörtern verbunden werden können, kann sich früher entwickeln. Zudem können sich die Kontrolle und Konzentration der Aufmerksamkeit und das Wissen darüber, dass andere etwas anderes wissen als man selbst, bei mehrsprachigen Kindern früher entwickeln. Außerdem kann sich das zwei- oder mehrsprachige Aufwachsen positiv auf die Kommunikationsstrategien und die Motivation auswirken, sich mit noch mehr Sprachen (und Kulturen) auseinanderzusetzen.
"Wenn man zwei- oder mehrsprachig aufwächst, hat man einen Vorteil, wenn man später eine weitere Sprache lernen will."
Ja, das kann ein Vorteil sein. Zwei- oder mehrsprachig aufwachsende Kinder vergleichen schon früh, wie Sprachen funktionieren und welche Regeln in der jeweiligen Sprache wichtig sind. Folglich verstehen sie unterschiedliche Sprachregeln und -strukturen meistens schneller und können eine Sprache schneller beherrschen, wenn sie (eine) weitere Sprache/n zu einem späteren Zeitpunkt erlernen.
"Je später man Kinder mit einer zweiten oder dritten Sprache vertraut macht, desto besser ist es für das Kind."
Im Gegenteil: Je früher ein Kind eine neue Sprache lernt, desto leichter wird es diese beherrschen - vorausgesetzt, es liegt keine geistige oder körperliche Beeinträchtigung oder mangelnde Unterstützung im Lernprozess vor. Im Allgemeinen verändern sich die Lernprozesse mit der Zeit, und der Aufwand für das Erlernen einer neuen Sprache nimmt ab dem Schulalter zu.
"Man ist nur dann zwei- oder mehrsprachig, wenn man beide/alle Sprachen perfekt beherrscht."
Zwei- oder mehrsprachig zu sein bedeutet, sich in beiden/allen relevanten Sprachen ausreichend verständigen zu können. Eine Sprache perfekt zu beherrschen, ist eine seltene Leistung, selbst für Menschen, die sich selbst als einsprachig bezeichnen.
Wenn Kinder einen Laut in einer Sprache falsch aussprechen (das kann passieren, wenn z. B. der Buchstabe "r" oder "th" in bestimmten Sprachen unterschiedlich ausgesprochen wird) oder sich an Wörter in einer Sprache nicht erinnern, bedeutet das nicht, dass sie nicht zwei- oder mehrsprachig sind.
"Eltern sollten zu Hause auch die Schulsprache fördern, um die Schullaufbahn ihrer Kinder zu unterstützen."
Im Gegenteil, die Eltern sollten zu Hause ihre Familiensprache sprechen, die Sprache, in der sie sich am besten ausdrücken können. Das hat verschiedene Vorteile:
- Eltern können bedeutungsvolle Gespräche mit ihrem Kind führen.
- Wenn dem Kind sprachliche Wurzeln in der Familiensprache gegeben werden, erhält es eine Grundlage für weitere Sprachlernsituationen.
- Es wird auch empfohlen, dass die Familie offen bleibt und sogar andere in die Familie eingebrachte Sprachen unterstützt, insbesondere die Schulsprache. Indem man Kindern zeigt, dass die Familiensprache und die Schulsprache gleich wichtig sind, bleibt das Kind wahrscheinlich motivierter, ein*e kompetente*r mehrsprachige*r Sprecher*in zu werden.
Wie kann ich mein Kind dabei unterstützen, einen reichen Wortschatz in den Sprachen zu entwickeln, die für mich und mein Kind von Bedeutung sind?
- Respektieren und wertschätzen Sie alle Sprachen in der Umgebung (z.B. Kindergarten/Kita, Schule, etc.). Das ist ein erster wichtiger Schritt.
- Geben Sie dem Kind die Freiheit, mit allen sprachlichen Fähigkeiten und dem Wortschatz in allen Sprachen zu kommunizieren, mit denen es vertraut ist (das sprachliche Repertoire).
- Verwenden Sie bei Gesprächen in der Familiensprache verschiedene Wörter und Ausdrücke und laden Sie das Kind ein, sich an den Gesprächen zu beteiligen. Auf dem Weg zu einem nahegelegenen Spielplatz können Sie zum Beispiel darüber sprechen, was das Kind dort machen möchte oder was Sie gemeinsam tun könnten. Sie können auch darüber sprechen, was dem Kind vom letzten Besuch auf dem Spielplatz in Erinnerung geblieben ist, und daraus ableiten, worauf das Kind sich konzentrieren möchte. Es empfiehlt sich, offene Fragen zu verwenden, beginnend mit "Was...? Wo...? Wer...? Wie...?", damit das Kind nicht nur mit "Ja oder Nein" antworten kann.
- Es ist wichtig, die Familiensprache zu sprechen, um eine solide Grundlage für alle anderen Sprachen zu schaffen, die das Kind später lernen wird. Es ist jedoch auch wichtig, Möglichkeiten zu schaffen, die den Zugang zur Schulsprache erleichtern. Das geht zum Beispiel, indem Sie...
- ...mit dem Kind zusammen Geschichten anhören.
- ...an Aktivitäten teilnehmen, die in der Schulsprache angeboten werden. Zum Beispiel ein Zeichenkurs, ein Museumsbesuch oder die Teilnahme an organisierten sportlichen Aktivitäten.
- ...mit dem Kind zusammen kurze Videos anschauen.
- ...mit dem Kind zusammen Sprachlernapps nutzen.
Auf diese Weise können Sie die Schulsprache zu einem Abenteuer machen, das sich für alle in der Familie lohnt.
Das Wichtigste:
- Für Kinder ist es im Allgemeinen kein Problem, mehr als eine Sprache zu lernen.
- Unser Gehirn arbeitet mit dem gesamten verfügbaren sprachlichen Repertoire zur gleichen Zeit. Je nach Situation entscheidet das Gehirn sehr schnell, welcher Teil des Repertoires zum Einsatz kommt.
- Code-switching ist eine Kompetenz, kein Problem oder eine unerwünschte Entwicklung.
- Die Verwendung vieler verschiedener Wörter und Ausdrücke in der Kommunikation mit Ihrem Kind fördert die Sprachentwicklung.
Aktivitäten zur Förderung der Sprachentwicklung im Allgemeinen
Aktivitäten, die die Sprachentwicklung im Allgemeinen fördern, eignen sich auch für die Unterstützung der mehrsprachigen Erziehung. Sie müssen lediglich für alle beteiligten Sprachen angepasst werden.
- Sie können Wortspiele mit dem Wortschatz aller für Sie und Ihr Kind relevanten Sprachen spielen. Das kann eine lustige Herausforderung für alle Familienmitglieder sein (z. B. "Stille Post").
- Wenn Sie draußen sind, können Sie Objekte erst in der Familiensprache, dann auch in der Schulsprache benennen. Auf diese Weise fügen Sie dem sprachlichen Repertoire des Kindes weitere Wörter hinzu.
- Sie können die verschiedenen Schreibweisen von Wörtern in der Familiensprache und in der Schulsprache zeigen und vergleichen. Auf diese Weise bekommt das Kind einen ersten Eindruck von verschiedenen Buchstaben in verschiedenen Sprachen. Das erleichtert dem Kind die Vorbereitung auf das spätere Lesen und Schreiben (die so genannte Lese- und Schreibvorläuferfähigkeit). Lenken Sie die Aufmerksamkeit des Kindes auf geschriebene Schilder auf der Straße und gängige Markennamen in Zeitschriften und Zeitungen, z. B. Coca-Cola, Superman usw.
- Heutzutage gibt es zweisprachige Bücher in immer mehr Sprachen. Diese können die Sprachentwicklung unterstützen, weil sie viele Möglichkeiten bieten, verschiedene Wörter und Ausdrücke in verschiedenen Sprachen zu verwenden. Mit Hilfe von zweisprachigen Büchern kann man verschiedene Wörter und Ausdrücke in verschiedenen Sprachen vergleichen und vielleicht auch Code-Switching anwenden. Eltern und Kinder können außerdem über Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sprachen diskutieren und die verschiedenen Laute von Sprachen vergleichen. Außerdem ist das Lesen zweisprachiger Bücher mit Kindern eine Möglichkeit zu vermitteln, dass verschiedene Sprachen gleich wichtig sind.
- Alternativ können Sie sich Zeichentrickfilme mit Untertiteln in Ihrer ersten Sprache, und anschließend auch in Ihrer zweiten Sprache ansehen.