Ein Ratgeber für Eltern
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Wie gehen wir als Familie mit Zwei-/Mehrsprachigkeit im Alltag um?
Familien und Einrichtungen wenden unterschiedliche Strategien an, um mit Zwei-/Mehrsprachigkeit in ihrem Alltag umzugehen. Welche Strategie gewählt wird, hängt davon ab, wovon sich die besten Prozesse für die Kinder erhofft werden. Mit zunehmendem Wissen über Zwei-/Mehrsprachigkeit erweisen sich bestimmte Strategien langfristig als mehr oder weniger wertvoll für die Entwicklung von Sprachkompetenzen.
1. Strategie: Zu Hause und in der Öffentlichkeit wird nur die Schulsprache gesprochen
Levent und Fatma haben eine Tochter namens Nisa (5 Jahre alt). Die kleine Familie lebt in Österreich. Levent und Fatma kommen aus der Türkei und wünschen sich unbedingt, dass ihre Tochter so bald (und so gut) wie möglich Deutsch spricht. Obwohl Fatmas Deutschkenntnisse recht eingeschränkt sind (Grammatik, Wortschatz, Aussprache und Satzmelodie), versucht sie, wann immer möglich, mit ihrer Tochter Deutsch zu sprechen. Fatma würde lieber Türkisch mit ihrer Tochter sprechen, weil sie sich in dieser Sprache am besten ausdrücken kann. Aber sie ist der Meinung, dass sie sich anstrengen muss, damit Nisa in der Schule oder später im Leben nicht zurückfällt.
Lange Zeit wurde Eltern geraten, die Schulsprache auch zu Hause zu verwenden, um Verwirrung und Überforderung des Kindes zu vermeiden. Dieser Rat war in der Regel gut gemeint, aber inzwischen hat die Forschung gezeigt, dass er das Kind - und auch den Rest der Familie - seiner Sprache und kulturellen Identität beraubt. Wenn es keine tägliche Routine für die Verwendung der Familiensprache gibt, wird sie vernachlässigt. Wenn die Eltern die Schulsprache nicht fließend beherrschen und die Grammatik- und Wortschatzkenntnisse eingeschränkt sind, erhält das Kind beim Spracherwerb (evtl.) nicht genügend Unterstützung. Dies ist weder für den Erwerb der Familiensprache noch für den Erwerb der Schulsprache förderlich. Zu bedenken ist auch, dass das Erlernen verschiedener Sprachen für das Kind in der Regel eine überschaubare Herausforderung darstellt (siehe Kapitel 2). Daher wird diese früher beliebte Strategie heute als nicht empfehlenswert angesehen.
2. Strategie: Eine Person, eine Sprache
Saya lebt mit ihrem Mann Jim und ihrem 18-jährigen Sohn Alishan in Slowenien. Saya spricht mit ihrem Sohn Kurdisch. Ihr Mann Jim benutzt Englisch, um mit Alishan zu kommunizieren. Es liegt ihnen sehr am Herzen, die Sprache ihrer Vorfahren und ihre eigene Identität weiterzugeben. Ihr Sohn war im Kindergarten und in der Schule immer von Slowenisch "umgeben", so dass sie sich nie Sorgen gemacht haben, dass er nicht in der Lage sein könnte, richtig Slowenisch zu lernen. Es hat funktioniert - Alishan ist ein kompetenter Sprecher der kurdischen, englischen und slowenischen Sprache geworden.
Ein anderer Ansatz ist die Strategie "eine Person, eine Sprache". Jeder Elternteil kommuniziert mit dem Kind in der Sprache, die er am besten beherrscht. Auf diese Weise erhält das Kind differenzierte und vielfältige Ausdrücke und Wörter in jeder Sprache, die die Eltern für ihre Kommunikation wählen. Gefühle und Ideen lassen sich in der Regel besser mit angemesseneren Worten in derjenigen Sprache ausdrücken, die ein Elternteil am besten beherrscht. Diese Strategie bietet dem Kind auch viele Gelegenheiten, die Sprachen in authentischen Situationen zu erwerben. So kann auch die sprachliche und kulturelle Identität bewahrt werden, da das Kind Zugang zu den verschiedenen Anteilen des sprachlichen Erbes der Familie hat.
Eine Variante dieser Strategie besteht darin, dass die Eltern zu Hause die Familiensprache sprechen, aber in die Schulsprache wechseln, sobald sie außerhalb des Hauses interagieren - oft in dem Versuch, sich an ihre Umgebung anzupassen.
Diese Strategie erfordert ein hohes Maß an Selbstdisziplin und Bemühungen, eine der Sprachen konsequent zu verwenden und nicht zu einer anderen Sprache zu wechseln, wenn zu Hause mehr als eine Familiensprache verwendet wird. Es kann viel "Übersetzen" für den anderen Elternteil bedeuten, der möglicherweise eine bestimmte Familiensprache nicht beherrscht. Andererseits kann diese Strategie, wenn sie konsequent verfolgt wird, den Erwerb eines reichhaltigen Wortschatzes in den Sprachen unterstützen, mit denen das Kind in Kontakt kommt. Außerdem ermöglicht diese Strategie den Eltern, ihre gegenseitige Wertschätzung für die kulturelle Identität des Partners zum Ausdruck zu bringen.
3. Strategie: Translanguaging
Gordin und Agbogbe haben eine 12-jährige Tochter, Katja, und leben in Litauen. Die Vorfahren von Gordin stammen aus Israel, und er spricht fließend Litauisch und Hebräisch. Agbogbe stammt aus Togo und spricht Französisch, Ewe und Litauisch. Beide Eltern wollen ihr sprachliches Erbe weitergeben. Agbogbe spricht mit ihrer Tochter Französisch und Ewe. Normalerweise spricht sie in der Öffentlichkeit Französisch und Ewe meistens zu Hause oder wenn das Gespräch emotional wird. Auch Gordin verwendet seine beiden Sprachen, wenn er mit Katja kommuniziert. In ihrem Alltag zu Hause wechseln sie ständig von einer Sprache zur anderen, was ihre mehrsprachige Realität widerspiegelt. Katja versteht alle Sprachen, antwortet aber meistens auf Litauisch. Ihre Eltern sind damit einverstanden, dass Katja nur auf Litauisch antwortet, und zwingen sie nicht, in einer anderen Sprache zu antworten. Ihr Verständnis von Hebräisch, Französisch und Ewe zeigt, dass Katja diese Sprachen kompetent nutzen kann. Sie und ihre Eltern sind stolz darauf, so viele Sprachen zu verstehen und zu sprechen.
Translanguaging ist ein Ansatz, bei dem alle an einem Gespräch Beteiligten ihr gesamtes sprachliches Repertoire (alle Sprachkenntnisse und das Vokabular in allen Sprachen, mit denen eine Person vertraut ist) einsetzen können. Dieser Ansatz respektiert die mehrsprachigen Realitäten der Familie. Er ermöglicht es Erwachsenen und Kindern, frei zu interagieren und ihre Sprachkenntnisse optimal zu nutzen. Diese Strategie erfordert ein Bewusstsein für verschiedene sprachfördernde Situationen, um das sprachliche Repertoire des Kindes auf ausgewogene Weise zu unterstützen. Mit anderen Worten: Das Kind wird aufgefordert, sein gesamtes sprachliches Repertoire zu nutzen, um sich auszudrücken. Dennoch sind die Eltern dafür verantwortlich, die Sprachentwicklung in jeder Sprache, mit der das Kind vertraut ist, so gut wie möglich zu unterstützen. Auf diese Weise kann das Kind in jeder angebotenen Sprache neue Impulse erhalten und die Schulsprache im Einklang mit der elterlichen Zustimmung effizienter lernen. Darüber hinaus können Eltern auch ihr eigenes sprachliches Repertoire vertiefen, während sie ihren Kindern gleichzeitig gute Lerngelegenheiten bieten.
Fragen zum Nachdenken:
- Welche Familiensprache verwenden wir in unserer Familie?
- Wenn wir mehr als eine Familiensprache verwenden, gibt es dann besondere Situationen, in denen wir eine Familiensprache bevorzugen? Warum ist das so?
- Mit welchen Strategien fühlen wir uns in unserer Familie am wohlsten?
Das Wichtigste:
- Familien und Einrichtungen wenden unterschiedliche Strategien an. Das Ziel ist in der Regel, die Zwei-/Mehrsprachigkeit und den zukünftigen Bildungserfolg des Kindes zu unterstützen. Eltern und Einrichtungen sollten sich über die potenziellen Chancen und Herausforderungen der verschiedenen Strategien im Klaren sein.
- Familien sollten ermutigt werden, den Zugang zu allen Sprachen zu erleichtern, die für sie wichtig sind und die für die Bildungslaufbahn ihres Kindes von Bedeutung sind. Die Eltern könnten dabei auch die Gelegenheit nutzen, ihr eigenes sprachliches Repertoire zu bereichern.